Zur Kritik der interpretatorischen Vernunft
Seit dem Aufkommen und der Entwicklung der Geisteswissenschaften und der historischen Disziplinen im vorigen Jahrhundert, der sogenannten »verstehenden Wissenschaften«, schien sich ein Graben zwischen den objektiven, die Welt und Wirklichkeit beschreibenden Naturwissenschaften einerseits und den verstehenden Geisteswissenschaften andererseits aufzutun.Eine entsprechende Kluft – vielleicht noch drastischer als zwischen naturwissenschaftlicher und literarisch-geisteswissenschaftlicher Intelligenz – scheint sich zwischen den wissenschaftlich-technischen Theorienbildung und -anwendung sowie der hochkomplizierten computergestützten Informationsverarbeitung einerseits und dem Alltagsverstehen bzw. Umgehen mit umgangssprachlichen Konzepten andererseits aufzutun. Kann – das ist die zentrale Frage dieses Buches – die Erkenntnistheorie etwas zur Überwindung dieser Kulturentrennung beitragen?Entgegen dem ersten Anschein einer Absolutheit und Unüberbrückbarkeit der genannten Spaltung zeigt sich im Verlauf einer differenzierten Auseinandersetzung mit bisherigen Interpretationstheorien und interpretationistischen Ansätzen, mit wissenschaftstheoretischen Konzepten Natur- und Sozialwissenschaften sowie mit erkenntnistheoretischen Überlegungen zur Alltagskenntnis, daß es eine abstraktere übergeordnete erkenntnistheoretische Ebene gibt, auf der diese so unüberbrückbar erscheinende Spaltung doch überwunden werden kann. Die »Brücke« dabei bildet der Begriff der konstruktiven Interpretation bzw. der Schemainterpretationen und der interpretatorisch-schematisierenden Aktivitäten sowie des Handelns und Erkennens mit Symbolen und symbolanalogen inneren Repräsentationen. Das Erkennen und Handeln sowohl im Alltag als auch in den Wissenschaften und den philosophischen Disziplinen ist symbolvermittelt. Ernst Cassirers Einsicht, daß der Mensch zwischen die Welt und sich eine »symbolische Zwischenwelt« spannt, die ihm ein »symbolisches Universum«, seine symbolische Welt bedeutet, ist hier einschlägig. Der Mensch als das »symbolische Wesen« ist auf die Ausbildung eines »Symbolsystems«, »Symbolnetzes« angewiesen, das ihm erst die handelnden und erkennenden Zugänge zur Welt bzw. sogar deren Konstitution als Gegenstandswelt ermöglicht und in differenzierter Weise zu strukturieren erlaubt. Symbolverwendung und symbolische Darstellung sind nun für die unterschiedlichen Umgangsweisen und Darstellungen sowie Handlungen auf beiden Seiten der Kulturtrennung charakteristisch. Hier ist ein übergreifender Gesichtspunkte gefunden, der zur Überbrückung der Spaltung auf höherer, abstrakterer erkenntnisphilosophischer und methodologischer Ebene Ansatzpunkte, sozusagen die Brückenköpfe für den Überbrückungsversuch, bietet. Denn alle zentralen Begriffe der Erkenntnis und der Handlungsanalyse sowohl im Alltag als auch in der Wissenschaft und in den geisteswissenschaftlich-philosophischen Disziplinen sind auf Symbolbildung, -verwendung und –deutung angewiesen, beruhen auf interpretatorisch-schematisierenden Aktivitäten, auf der Anwendung von teils evolutionär vorgegebenen und unbewußten, teils interaktiv mit der Umwelt entwickelten, teils konventionell aufgebauten bzw. im engeren sozio-kulturellen Sinne erlernten Schemata. Deren Bildung, Ausdifferenzierung, Weiterentwicklung und Anwendung ist in diesem Buch als Interpretieren im weiteren Sinne aufgefaßt worden – genauer: als Schemainterpretieren.Der Interpretationskonstruktionismus ist zunächst als methodologischer Ansatz konzipiert und entwickelt worden. Er kann jedoch auch in der Tradition der traditionellen Erkenntnistheorie als ein quasi kantischer transzendentaler Interpretationismus aufgefaßt und ausgebaut werden – gleichsam zu einer Erkenntnistheorie des kulturellen und symbolischen Wesens, das der Mensch ist.