Serpentine Books
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View Rights Portal»Schlimm ist es zu sehen, wie Geschichte entsteht.« Seit Sommer 2014 notiert Serhij Zhadan, was ihm auf seinen Reisen ins ostukrainische Kriegsgebiet widerfährt. Es sind lyrische Momentaufnahmen, die das Essentielle jäh aufscheinen lassen, Kürzestgeschichten über Menschen, die plötzlich auf zwei verfeindeten Seiten stehen oder nicht mehr wissen, wo sie hingehören und was aus ihnen werden soll. Wenige Strophen vermitteln etwas von der Tragödie Millionen Einzelner. In den lakonischen Versen ist die Bedeutung Brechts spürbar, dessen Lyrik Zhadan seit der ukrainischen Revolution übersetzt.
Es sollte ein weiterer Gedichtband werden, schreibt Serhij Zhadan, über die östliche Landschaft im Winter, den nahenden Schnee, die Stimmen in der Luft, die Weinberge, die Stadt am Horizont, die sich mit Lärm und Licht füllt. Doch am 24. Februar 2022, mit Beginn des großen Krieges, brach die Zeit, verstummte die Poesie. Erst Monate später kehrte die Sprache zurück: »Zeit neue Gedichte zu schreiben / Bei den alten weint niemand mehr.« 50 + 1 untertitelt Zhadan seinen neuen Lyrikband, der das Davor und Danach und den Riss in der Mitte dokumentiert – datierte Gedichte, zwischen Ende 2021 und Sommer 2023 geschrieben.
»Vergiß die Politik, lies keine Zeitung, geh nicht ins Netz, verweigere deine Stimme« – so beginnt der »Linke Marsch«, ein Kapitel aus Serhij Zhadans zweitem Prosaband, dem ein Song der Sex Pistols, Anarchy in the UKR, als Motto dient. Zhadan ist dabei, sich zur stärksten Stimme der jungen ukrainischen Literatur zu entwickeln – und zum Antipoden von Juri Andruchowytsch. Auch Zhadans Ich-Erzähler ist ständig im Zug oder in bizarren Landschaften unterwegs. Doch es zieht ihn nicht zu den Ruinen der habsburgischen Vergangenheit, sondern in die Industriebrachen des Donbass im Südosten des Landes – an die Orte des von den Sowjets zerschlagenen Anarchokommunismus. Niemand scheint sich an Nestor Machno zu erinnern. Anarchismus, das gab es nie. Bis er im November 2004 in Charkiw, zu Füßen des »Fuck-Lenin-Denkmals«, wiederaufersteht.
Spätestens seit dem Erfolg seiner "Hymne der demokratischen Jugend" hat sich Serhij Zhadan als originellste Gegenstimme zum poetischen Landvermesser Juri Andruchowytsch etabliert. In seiner sechsteiligen Erzählung "Big Mäc" kehrt er der Anarchie der postsowjetischen Umbruchzeit den Rücken und flaniert durch die Straßen alter Städte - Orte der Subkultur, Mitteleuropa entmythologisiert. Im »Berlin, das wir verloren haben« lauern Irrsinn und Einsamkeit hinter jeder Toreinfahrt. In Wien meditiert er über »Zehn Arten, John Lennon umzubringen«. Es zieht ihn nicht nur zu den hedonistischen Außenseitern, die unter kalten europäischen Himmeln herumwandern, sondern auch in die eigene Vergangenheit: eine Welt des Lachens und endlosen Fliegens »am Orangenhimmel, der sich über unserer Heimat ausspannte«.
Für ein Tagebuch fehlt ihm die Zeit. Serhij Zhadan ist Tag und Nacht im beschossenen Charkiw (Ost-Ukraine) unterwegs – er evakuiert Kinder und alte Leute aus den Vororten, verteilt Lebensmittel, koordiniert Lieferungen an das Militär und gibt Konzerte. Die Posts in den sozialen Netzwerken dokumentieren seine Wege durch die Stadt und sprechen den Charkiwern Mut zu, unermüdlich, Tag für Tag. Die Stadt leert sich. Freunde kommen um. Der Tod ist allgegenwärtig, der Hass wächst. Als die Bilder von Butscha um die Welt gehen, versagt auch Zhadan die Stimme. »Es gibt keine Worte. Einfach keine. Haltet durch, Freunde. Jetzt gibt es nur noch Widerstand, Kampf und gegenseitige Unterstützung.« Nachrichten vom Überleben im Krieg: Das Buch ist eine Chronik der laufenden Ereignisse aus der Ukraine, das Zeugnis eines Menschen in der Ukraine, der während des Schreibens in eine neue Realität eintritt und sich der Vernichtung von allem entgegenstemmt. Kein einsamer Beobachter, sondern ein aktiver Zivilist in einer Gesellschaft, die in den letzten acht Jahren gelernt hat, was es bedeutet, gemeinsam stark zu sein. 2022 wird Serhij Zhadan zum Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels gewählt. In der Begründung heißt es: »Wir ehren den ukrainischen Schriftsteller und Musiker für sein herausragendes künstlerisches Werk sowie für seine humanitäre Haltung, mit der er sich den Menschen im Krieg zuwendet und ihnen unter Einsatz seines Lebens hilft. In seinen Romanen, Essays, Gedichten und Songtexten führt uns Serhij Zhadan in eine Welt, die große Umbrüche erfahren hat und zugleich von der Tradition lebt. Seine Texte erzählen, wie Krieg und Zerstörung in diese Welt einziehen und die Menschen erschüttern. Dabei findet der Schriftsteller eine eigene Sprache, die uns eindringlich und differenziert vor Augen führt, was viele lange nicht sehen wollten. Nachdenklich und zuhörend, in poetischem und radikalem Ton erkundet Serhij Zhadan, wie die Menschen in der Ukraine trotz aller Gewalt versuchen, ein unabhängiges, von Frieden und Freiheit bestimmtes Leben zu führen.«
Das Meisterwerk von Serhij Zhadan, eine leidenschaftliche Liebeserklärung an seine multikulturelle Heimatstadt »Auf der Straße werde wieder geschossen, sagte sie noch, der Krieg gehe weiter, und niemand habe die Absicht, sich zu ergeben.« Romeo, zwanzig Jahre alt, ist zum Studium nach Charkiw gekommen. Staunend lauscht er den rhapsodischen Liebeserklärungen an die Stadt, mit denen seine Vermieterin ihn von täppischen Annäherungsversuchen abzubringen versucht. Ungläubig nimmt er ihre Sätze über den Krieg zur Kenntnis – wie auch wir, die Leser. Schon in Die Erfindung des Jazz im Donbass hatte Zhadan seine beklemmende Hellsichtigkeit unter Beweis gestellt. Wer wollte, konnte Anzeichen für einen gewaltsamen Zerfall der Region herauslesen. In Mesopotamien porträtiert er ein modernes Babylon, seine Heimatstadt Charkiw, indem er von Menschen erzählt, die im »Zweistromland« leben: zwischen dem ukrainischen Dnjepr im Westen und dem russischen Don im Osten. Rebellen der Existenz, kämpfen Zhadans Helden, Marat, Romeo, Sonja, Ivan, Bob und wie sie alle heißen, gegen die drohende Verfinsterung ihres Lebens. Vor dem Hintergrund des Krieges, der bereits begonnen hat, ringen sie um den Sinn ihres Lebens, um ihre Liebe, um ein mutiges, freies Verhältnis zueinander, dem auch der Tod nichts anhaben soll.
Feuerpause ist Serhij Zhadans erstes originäres Theaterstück, das ins Deutsche übersetzt wurde. Das Stück spielt im Sommer 2014 im Donbass, wo die Ukraine von bewaffneten Truppen attackiert wird. Zhadan hat bereits in seinen Romanen, die vielfach für die Bühne adaptiert wurden (Internat, Die Erfindung des Jazz im Donbass), diese Anfangsphase des russischen Kriegs gegen die Ukraine eindrücklich zum Thema gemacht. Mit großer Lakonie und Situationskomik erschafft Zhadan eine atmosphärisch dichte Situation, in der seine Figuren einander nicht mehr ausweichen können. Sie werden zu einer von Feindseligkeiten durchsetzten Schicksalsgemeinschaft. Der Tod bringt alle zusammen: Die verstorbene Mutter liegt oben im Schlafzimmer, in der Küche treffen die beiden Brüder nach langer Zeit wieder aufeinander. Anton, der Ältere, hat das Weite gesucht. Der Jüngere, Tolik, ist geblieben, dem schwelenden Krieg und den zunehmend prekären Verhältnissen zum Trotz. Doch nun wurde die Brücke gesprengt, das Postamt zerstört, die Felder in Brand gesteckt, die Wasserversorgung gekappt. Die Hitze nimmt zu. Es klopft an der Tür, herein tritt Tante Schura, in Begleitung zweier Frauen, zum Aufräumen und zur Totenwaschung. Immer wieder klopft es, immer mehr Leute aus der Ortschaft treten ein, das Haus der Toten füllt sich mit Leben, es wird zu einer Zuflucht und Falle zugleich. Sie alle misstrauen einander, haben sich gegenseitig ausspioniert und verraten. Wie spricht man miteinander, wenn auch die Sprache kaputt und die Fähigkeit, einander zu verstehen, in der Vorkriegszeit verschollen ist?
Zhadans Helden kämpfen gegen die Verfinsterung ihres Lebens in der Ukraine. Sie sind Rebellen der Existenz. Und vor dem Hintergrund des Krieges ringen sie um ihre Liebe, um ein mutiges, freies Verhältnis zueinander und um die eine Geschichte, die irgendwann alle über dieses Chaos erzählen werden. Mesopotamien ist das Meisterwerk von Serhij Zhadan, eine leidenschaftliche Liebeserklärung an seine Heimat. »Zhadan hat ein so wehmütiges, gut gelauntes und kämpferisches Buch geschrieben, wie es lange keins mehr gab. Ein lebendiges Denkmal für die ideale Stadt Charkiw, die bedrohte Stadt, das bedrohte Land. Dabei ist er nicht einen Moment kitschig oder folkloristisch, dafür sind seine Figuren viel zu besoffen, naiv, selbstverliebt und mitunter auch brutal.« Volker Weidermann, Der Spiegel
»Die Stadt lag da wie ein Tier mit gebrochenem Rückgrat«. In der vom Krieg heimgesuchten Großstadt treffen sich Menschen an Orten, die noch halbwegs intakt sind: auf dem Fußballplatz, in der Kirche, in einem lichtdurchfluteten Hochhausbüro. Zhadan-Leser begegnen vertrauten Figuren aus Mesopotamien oder Internat – Leute, bei denen man nie genau wusste, was sie eigentlich tun: Musiker, arbeitslose Lehrer, Werber, Automechaniker.Jetzt kämpfen sie mit neuen Realitäten: Eine alte Frau muss nach einem Angriff evakuiert werden, ein Invalide braucht Arbeit, ein gefallener Kollege wird beerdigt. Zhadan erzählt eindringlich vom Leben in einem Alltag, der vom Krieg gezeichnet ist – von Schutzlosigkeit, Verlust und einer Gesellschaft, die sich daran gewöhnt hat, dass überall der »große Tod« mit herumsteht, wo immer man sich auch trifft.
Charkiw 1993. Sowjetische Kriegsveteranen und neureiche biznesmeny lauschen im Konzertsaal einem amerikanischen Erweckungsprediger. In ehemaligen Komsomolbüros der ostukrainischen Metropole residieren Werbeleute. Das Jugendradio bringt in Kooperation mit London ein Feature über die »irische Volksmusikgruppe Depeche Mode« und die Rolle der Mundharmonika beim Kampf gegen kapitalistische Unterdrückung. Durch diese hybride Szenerie irren drei Freunde – Dog Pawlow, Wasja Kommunist und der Ich-Erzähler Zhadan, neunzehn Jahre alt und arbeitslos –, um ihren Kumpel Sascha Zündkerze zu finden. Sie müssen ihm mitteilen, daß sich sein Stiefvater erschossen hat. Ihre Suche führt sie auf ein verfallendes Fabrikgelände, wo sie eine Molotow-Büste klauen, ins Roma-Viertel zu einem befreundeten Dealer und schließlich per Nahverkehrszug ins Pionierlager »Chemiker«, wo Zündkerze als Betreuer arbeitet. Depeche Mode, Zhadans erster Roman, führt mitten hinein in die Anarchie der postsowjetischen Umbruchszeit und entfaltet ihre enorme ästhetische Produktivkraft.
Nur in einer Umgebung, wo anachronistische Industrieanlagen wie Dinosaurier in der Landschaft liegen und als letzte Zeugen des grandiosen Sowjetexperiments vor sich hinrotten, konnte jene postproletarische Melancholie und Punkpoesie entstehen, die Sergiy Zhadan den Ruf des populärsten Lyrikers der Ukraine eingebracht hat.
Juri Andruchowytsch, geboren 1960 in Iwano-Frankiwsk/Westukraine, dem früheren galizischen Stanislau, studierte Journalistik und begann als Lyriker. Außerdem veröffentlicht er Essays und Romane. Andruchowytsch ist einer der bekanntesten europäischen Autoren der Gegenwart, sein Werk erscheint in 20 Sprachen. 1985 war er Mitbegründer der legendären literarischen Performance-Gruppe Bu-Ba-Bu (Burlesk-Balagan-Buffonada). Mit seinen drei Romanen Rekreacij (1992; dt. Karpatenkarneval, 2019), Moscoviada (1993, dt. Ausgabe 2006), Perverzija (1999, dt. Perversion, 2011), die unter anderem ins Englische, Spanische, Französische und Italienische übersetzt wurden, ist er unfreiwillig zum Klassiker der ukrainischen Gegenwartsliteratur geworden. Sabine Stöhr, 1968 geboren, studierte Slawistik in Mainz und Simferopol. Seit 2004 übersetzt sie aus dem Ukrainischen, v.a. die Werke von Juri Andruchowytsch und, gemeinsam mit Juri Durkot, das Romanwerk von Serhij Zhadan. 2014 wurde sie mit dem Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung ausgezeichnet. Ebenfalls 2014 erhielt sie, gemeinsam mit Juri Durkot und dem Autor, den Brückepreis Berlin für Die Erfindung des Jazz im Donbass von Serhij Zhadan. 2018 wurde Sabine Stöhr und Juri Durkot der Preis der Leipziger Buchmesse verliehen für ihre Übersetzung des Romans Internat von Serhij Zhadan.
Der Krieg in der Ostukraine ist ein Krieg im Zentrum Europas. Das wurde spätestens klar, als über dem Kampfgebiet eine zivile Verkehrsmaschine abgeschossen wurde. Über 300 Menschen, die meisten aus den Niederlanden, kamen ums Leben. Doch nichts geschah, was die Gewalt und den rasanten Zerfall von Zivilität bis hin zum Sterben der Millionenstädte Donezk und Luhansk hätte stoppen können. Die Ereignisse, die der Maidan-Revolution in Kiew folgten, von der Krim-Annexion bis zur Invasion russischer Truppen in Nowoasowsk, haben binnen weniger Monate die Grundlagen der europäische Nachkriegsordnung erschüttert: territoriale Integrität, Souveränität, Sicherheit, Frieden scheinen außer Kraft gesetzt. Russland und der Westen stehen sich wieder feindlich gegenüber. Wie konnte es dazu kommen? Und was bedeutet das für das künftige Zusammenleben in Europa? Schriftsteller und Publizisten suchen nach Antworten. Mit Beiträgen von Alice Bota, Andreas Kappeler, Kateryna Mishchenko, Herfried Münkler, Serhij Zhadan u.a.
Sind wir, was wir gelesen haben? Schärft Lesen die Wahrnehmung? Den Gemeinsinn? Was geschieht im Gehirn, wenn wir lesen? Gibt es ein illegitimes Lesen? Ein ekstatisches? Liest man alt anders als jung? Wie las man im Sozialismus? Was liest man im Krieg? Was bedeutet Lesen in unserer heutigen Abstiegsgesellschaft? Macht Nicht-Lesen am Ende glücklicher? Dies ist ein Lesebuch und ein Buch über das Lesen, eine Anthologie, die das welt- und selbsterschließende Abenteuer des Lesens beschreibt, seziert und feiert. Ausgehend von ihren literarischen oder wissenschaftlichen Arbeiten nehmen sich 24 Autorinnen und Autoren die Freiheit, das Thema auf ihre Weise zu behandeln: in Gestalt einer Theorie, einer Erzählung, einer Kindheitserinnerung oder als Streifzug durch die eigene Bücher- und Lesegeschichte. Mit Originalbeiträgen von: Marcel Beyer, Rachel Cusk, Annie Ernaux, Jürgen Habermas, Michael Hagner, Eva Illouz, Hans Joas, Dževad Karahasan, Esther Kinsky, Thomas Köck, Sibylle Lewitscharoff, Enis Maci, Nicolas Mahler, Friederike Mayröcker, Oliver Nachtwey, Katja Petrowskaja, Andreas Reckwitz, Hartmut Rosa, Clemens J. Setz, Wolf Singer, Maria Stepanova, John Jeremiah Sullivan, Alejandro Zambra, Serhij Zhadan